Unzerschnittene Landschaften: Ein rares Gut.
„Landschaftliche Freiräume sind eine Grundvoraussetzung für das ökologische Funktionieren des Gesamtsystems Landschaft.“
Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern1
Seit Jahrhunderten hat der Mensch durch Siedlungsbau, Verkehrsschneisen, Trockenlegung von Mooren („Melioration“), intensivierte Land- und Waldwirtschaft, Energieleitungen und Gewerbe kontinuierlich die Lebensräume von Pflanzen und Tieren zerschnitten oder ganz zerstört. Bis vor wenigen Jahrzehnten gab es aber immer noch genügend abgelegene Gebiete, in denen sich der menschliche Einfluss in Grenzen hielt. Solche Zonen braucht die Natur, um ihr Gleichgewicht erhalten und stabilisieren zu können.
Doch nun greift paradoxerweise die Energiewende – die doch erklärtermaßen dem Artenerhalt dienen soll – mit der „flächenhaften ‚Transformation‘ der Landschaften in ‚Energielandschaften‘“2 nach diesen letzten Refugien und trägt massiv zum Lebensraumverlust bei, auch in unserem Bundesland. Wind- und Solarinvestoren putzen eifrig Klinken, um sich die letzten attraktiven Großflächen abseits aller Wohnbebauung zu sichern.
Aber was ist so schlimm an ein paar Windrädern oder Solarplatten in Gegenden, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen?
Artenschutz braucht Raum
Eingriffe in die Natur sind wie ein Bumerang: Am Ende fallen sie auf uns zurück. Denn ob wir es hören wollen oder nicht: Wir Menschen sind Teil der Natur. Ohne sie können wir nicht existieren. Und das komplizierte Abhängigkeitsgeflecht abertausender Tier- und Pflanzenarten funktioniert nur, wenn die Natur genügend Raum hat für ein Leben nach ihren eigenen Gesetzen und genügend Verbindungswege für den genetischen Austausch. Doch beides ist nicht mehr der Fall. „Die übermäßige wirtschaftliche Nutzung natürlicher Ressourcen“, heißt es in einer gemeinsamen Informationsbroschüre3 der Bundesministerien für Umwelt (BMUV) und Entwicklungshilfe (BMZ), „(…) die Umweltverschmutzung und Nährstoffbelastung an Land und im Meer sowie der Klimawandel tragen wesentlich zum anhaltenden Verlust der Biodiversität bei.“
Die Lage ist dramatisch: Nach einem aktuellen Bericht von ZEIT Online4 ist inzwischen jede fünfte Tier- und Pflanzenart in Europa vom Aussterben bedroht. Das aber bedroht auch unsere eigene Existenz.
Raum ist knapp
Deutschland ist eines der am dichtesten besiedelten Länder Europas. In vielen Bundesländern ist von „freier Wildbahn” nicht mehr viel übrig. Anders in Mecklenburg-Vorpommern: Unser vergleichsweise dünn besiedeltes Land verfügt noch immer über zahlreiche Freiräume mit großer Geschlossenheit und abwechslungsreichen Habitaten. Nicht zuletzt deshalb ist der Rotmilan bei uns noch heimisch. Und selbst massiv gefährdete und menschenscheue Arten wie Schwarzstorch und Kiebitz finden hier, wenn auch nur noch an wenigen Stellen, ihren Platz. Ihren Lebensraum zu erhalten, liegt in unserer Verantwortung. Kommen wir dazu und meinen, ihn zeitgleich auch für uns nutzen zu können, werden sie gehen.
Und die Erfahrung lehrt: Da, wo der erste Eingriff in die Natur stattfindet, folgen bald weitere Eingriffe. Denn hier stimmt – leider – das Motto Honeckers: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“.5
Landschaftlicher Freiraum: Das Tafelsilber Westmecklenburgs
Unzerschnittene landschaftliche Freiräume sind im westlichen Landesteil deutlich seltener als im Landesinneren entlang der Seenplatte. Große und aufgrund ihrer Naturraumstruktur zugleich besonders schutzwürdige Landschaftsräume sind hier die Ausnahme. Umso größer ist ihre Bedeutung für die Natur. Sie sind das Tafelsilber Westmecklenburgs.
Verteilung der Funktionsklassen landschaftlicher Freiräume in MV von Stufe 1 (geringe Schutzwürdigkeit, hellrosa) bis Stufe 4 (sehr hohe Schutzwürdigkeit, rotbraun)6
Nicht umsonst gab das staatliche Amt für Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern (LUNG) schon 2001 in einem Grundsatzpapier7 die Devise aus: “Aus Gründen der Risikovorsorge ist es angezeigt, ein möglichst großes Potential an großflächigen Freiräumen zu sichern.”
Arten vernichten, um das Klima zu retten?
Mit dem Grundsatz kluger Vorsorge ist es indes vorbei. Besonders engagierte Klimaretter aus den Städten erklären immer unverhohlener, wenn das Klima kippe, werde es auch keinen Rotmilan und keinen Schwarzstorch mehr hier geben.
Mag sein. Aber das ist noch lange kein Grund, den Rotmilan und Schwarzstorch sofort schon fortzujagen. Ganz im Gegenteil: Solange es noch freie Gewerbedächer, Siedlungsbrachen, Autobahnränder, geschlossene Mülldeponien und Parkplätze gibt, gehören diese Flächen genutzt.
Beispiel Schilde-Schaale-Urstromtal.
Die von den Ministern Backhaus und Pegel 20218 verkündete Freigabe von 5.000 Hektar Land für Freiflächen-PV-Anlagen führte auch im Schilde-Schaale-Urstromtal zu einem Planungsrausch. In vielen Gemeinden sehen sich nun die Anwohner den mit Vehemenz vorgebrachten Interessen von Flächeneignern und Gemeindevertretern ausgeliefert, die alle Einwände mit dem komfortablen Argument kontern, die Zweifler hätten wohl die Zeichen der Zeit und Notwendigkeit der Energiewende noch nicht erkannt.
Aber es gibt Ausnahmen. Zum Beispiel die Gemeinde Bengerstorf. Hier hat der Gemeinderat einen Grundsatzbeschluss gefasst, demzufolge Solarenergie auf Freiflächen im Gemeindegebiet ausgeschlossen bleibt. „Wir tun in unserer Gemeinde einiges“, sagt die Bürgermeisterin Hannelore Mahnke, „und haben in den letzten Jahren Solarenergie auf viele Haus- und Stalldächer gebracht. Aber auf unseren Äckern und Grünflächen haben die Module nichts verloren. Jedenfalls nicht, solange es noch genügend Fabrikhallendächer und Parkplätze hier im Land gibt, unter denen die Fläche ohnehin schon versiegelt ist.“
Nur wenige Gemeinden denken so vorausschauend. Zu sehr lockt das schnelle Geld, zu schwammig die Kriterien und die Terminvorgaben, nach denen entschieden werden soll, wer den Zuschlag erhält. Überhaupt scheint auf Seiten der Verwaltung derzeit niemand systematisch zu erfassen, wo überall im Kreis oder Land gerade solche Anlagen geplant werden. Offenkundig begnügt man sich damit abzuwarten. Sie werden dann in den nächsten Jahren an allen möglichen Stellen unvorhergesehen aus dem Boden schießen wie Pilze nach dem Regen. Von Planung und Ordnung keine Spur, nicht einmal in den wertvollsten Freiräumen, die das Land besitzt.
Noch fataler ist es bei der Windenergie. Das bizarre Planungsvakuum in Westmecklenburg dürfte – mit Ausnahme der Biosphären – binnen kurzem zu einem Ausverkauf der letzten unzerschnittenen Freiräume führen. Die Karte möglicher und bereits von Investoren angefragter Flächen im letzten großen Landschaftsraum zwischen den Biosphären Schaalsee und Elbe lässt schon einmal erahnen, wie es im selbst erklärten „Land zum Leben“ bald fast überall um die viel beschworene „unberührte Natur“ stehen könnte.
Aktuelle Windenergie-Potentialflächen (blau schraffiert) innerhalb eines mehr als 8.000 ha großen landschaftlichen Freiraumes der höchsten Wertigkeitsstufe (dunkelbraun)9
„Boden und Wasser, Klima und Luft, Wald und Landschaft, Tierwelt und Pflanzenwelt bilden die natürlichen Lebensgrundlagen. Ihr Bestand und letztlich die Funktionsfähigkeit des gesamten ökologischen Systems hängen davon ab, daß genügend freier Raum vorhanden ist. Je mehr Raum durch Wohnungs-, Gewerbe-, Versorgungs- oder Verkehrsbauten in Anspruch genommen wird, desto schärfer stellt sich die Frage, ob der verbleibende freie Raum noch die Funktionen erfüllen kann, die zur Erhaltung oder Regeneration der natürlichen Ressourcen erforderlich sind. Freiraum ist der Teil der Erdoberfläche, der in naturnahem Zustand ist oder dessen Nutzung mit seiner ökologischen Grundfunktion überwiegend verträglich ist. Die Definition ist zweckbestimmt durch die Grundfunktion, die Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes zu sichern.“
Ernst-Hasso Ritter10
- Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern: Grundsatzpapier (2001), S. 2; Stand: 15.1.2024 ↩︎
- Dr. Wolfgang Epple: Naturschutz und Windkraft (o. J.); Stand: 15.1.2024 ↩︎
- BMUV, BMZ: Biologische Vielfalt – unsere gemeinsame Verantwortung (2022), S. 4; Stand: 15.1.2024 ↩︎
- ZEIT ONLINE, dpa, iso: Artensterben: Jede fünfte Tier- und Pflanzenart in Europa gefährdet (2023); Stand: 15.1.2024 ↩︎
- Das räumt übrigens selbst der Landesverband Erneuerbare Energien MV (LEE MV) indirekt ein. In einem Papier aus dem Jahr 2021 (LEE MV: Unzerschnittene landschaftliche Freiräume und Windenergie in Mecklenburg-Vorpommern (2021); Stand: 15.1.2024), in dem er den Schutz der unzerschnittenen Freiräume in Frage stellt, moniert er nämlich die inzwischen veraltete Datenbasis, die einige inzwischen vorgenommene Baumaßnahmen nicht aufgenommen habe, und erklärt: „Die neuen Zerschneidungen und Bebauungen, sowie die damit zu vergrößernden Wirkzonen, haben Auswirkungen auf die Flächengröße der Freiräume und möglicherweise auch auf die in diesem Bereich vorliegenden Funktionsmerkmale. (…) Die Anwendung (…) als Gebietskategorie, die nach dem Planungswillen des Planungsgebers von WEA [d.i. Windenergieanlagen] freigehalten werden sollen, ist deshalb rechtlich nicht haltbar, weil schlichtweg und zuvörderst durch Tatsachen überholt.“ Mit anderen Worten: Mit der ersten Baumaßnahme, die in unzerschnittenen Landschaftsräumen vorgenommen wird, verlieren diese insgesamt ihren Schutz und geraten in Gefahr, nun erst recht der Zerschneidung und Zerstörung preisgegeben zu werden. ↩︎
- © LUNG MV (CC BY-SA 3.0) © OpenStreetMap-Mitwirkende, SRTM | Kartendarstellung: © OpenTopoMap (CC-BY-SA) ↩︎
- Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern: Grundsatzpapier (2001), S. 3; Stand: 15.1.2024 ↩︎
- Ministerium für Energie, Infrastruktur und Digitalisierung: Pegel & Backhaus: Mehr Photovoltaik wagen! / Kriterien für breitere Nutzung (2021); Stand: 15.1.2024 ↩︎
- Freiraumkarte: © LUNG MV (CC BY-SA 3.0)Potentialflächen: © Bürgerinitiative Schilde-Schaale (CC BY-SA)Grundkarte: © OpenStreetMap-Mitwirkende, SRTM | Kartendarstellung: © OpenTopoMap (CC-BY-SA) ↩︎
- Ernst-Hasso Ritter: Freiraum/Freiraumschutz in Handwörterbuch der Raumordnung, S. 336 – 340, Akademie für Raumforschung und Landesplanung (1995). ↩︎